David Gray: Sarajevo Disco

20171022_114714 Boyle, Leiter der Hamburger MoKo (lies: Mordkommission) agiert im Rahmen seines Ermessensspielraums, so wie er ihn definiert. Zeitweise geschieht das sogar im Bereich von Recht und Gesetz. So versucht er Dokumente zu unterschlagen, aus denen seine Vorgesetzten/Kritiker/Feinde schließen könnten, dass er sich in der Vergangenheit mit Kriminellen arrangiert hat und mit einem Drogenboss befreundet ist. Dann wirkt er dabei mit, dass die Karriere einer jungen Kommissarin nicht abrupt endet, indem er dabei hilft, eine Urinprobe zu manipulieren. Wobei im Sprachgebrauch des Autors die originale Flüssigkeit banal als Pisse bezeichnet wird und Hinweise auf Drogenkonsum gegeben hätte.

Alles Pisse oder was? Formulierungsverhalten und Wortwahl von David Gray kennen wir aus Kanakenblues, aber hier hat er sich aus dem spätpubertärem Niveau des ersten Boyle-Krimis trotz dieser anfänglichen, bepissten Passage weiterentwickelt. Dass David Gray mehr kann, als einen Krimi mit einem Übermaß an rotzigen, motzigen Sprüchen zu gestalten, hat er als Ulf Torreck, seinem Klarnamen,  mit Fest der Finsternis bewiesen. Mit Sarajevo Disco erzählt er ebenfalls auf hohem Niveau.

Von Turfwar, Terz auf dem Kiez und Jugendlichen, die nach einer Marketingaktion eines Drogenbosses an einer ÜD (lies: Überdosis) krepieren oder im besten Fall auf der Intensivstation landen, wird hier berichtet. Boyle und seine toughe, aber noch weitgehend in diesem kriminellen Umfeld unerfahrene Helferin, die junge Kommissarin Jale Arslan, haben bei Motiv- und Tätersuche eine Auswahl, weshalb die tödlichen Pillen in Umlauf gebracht wurden, welche der Hamburger Drogenbosse im Hintergrund agieren und warum etliche deren Mitarbeiter durchlöchert werden. Mit im Geschäft ist die Kanzlergang, mit Masken des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl im Gesicht Pillen und sehr spezielle Geschosse verteilend. Boyle weiß zunächst nicht, auf wessen Payroll die Kohlköpfe stehen und holt sich Informationen direkt bei seinen alten Spezis aus dem Milieu, die aber auch nicht ungeschoren von ihren Kontrahenten davonkommen.

Das totale Chaos, in dem sich Boyle befindet, wird noch verstärkt durch die Hindernisse, die karrieregeile Politiker und Spitzenbeamte im Polizeidienst dem farbigen, auffälligen Kommissar in den Weg stellen. Boyle schafft es dennoch, die Verwicklungen aufzudröseln. Und das in einer Weise, wie nur er es vermag: Immer am Rande des Rausschmisses, weil er entgegen allen Anweisungen und scheinbar bar jeglicher Vernunft jenseits von Recht und Ordnung handelt und ermittelt.

Zwar ist auf dem Klappentext von einem realistischen Hintergrund eines rasanten Polizeithriller die Rede, und das mit der Rasanz bestätige ich gern. Den Realismus im Hintergrund sehe ich jedoch soweit im Hintergrund, dass er doch nahezu zur Unkenntlichkeit schrumpft. Das mag am dominierenden Vordergrund – Boyle und dessen Agieren – liegen, der von David Gray in aufregender und fesselnder Art gezeichnet wird.

Liebe Leser, es ist Fiction, was hier geschrieben steht, obwohl Kiezkrieg und Politiker/Polizeichefs mit karrieregeilen Attituden und deren Ausarten sicherlich unter dem Stichwort „Realität“ abgelegt werden können.

Ein spannender Plot, ausgezeichnet mit zum Teil deftiger Wortwahl erzählt.

Gut gemacht David Gray!

— O —

Erschienen 2017 bei Pendragon

— O —

Das haben andere Blogger*innen zu Sarajevo Disco geschrieben:

Gunnar auf Kaliber.17/Krimirenzensionen: Und auch wenn Gray ab und zu ein wenig die Gäule in seiner bildhaften Sprache durchgehen („Denn alles, worum es dem Präsidenten mit seinem Razziabefehl wirklich ging, war Bürgermeister Mahlmann so tief in den Arsch zu kriechen, dass all die Blechsterne auf seinen Uniformschultern hart über dessen Speiseröhre kratzen mussten.“, Seite 132), überwiegt der Spaß an diesem lässig-coolen, unkonventionellen, hartgesottenen Stück Krimi.

Katja auf Wortgestalt: David Gray zieht der Biederkeit der deutschsprachigen Kriminalliteratur kräftig den Stock aus dem Allerwertestenn. Er inszeniert im Hamburger Gangstermilieu einen Polizeithriller, der gleichermaßen von seinen Akteuren und seiner Sprache lebt, einen schönen Plot bietet und sich recht wenig um Konventionen schert. Gut so.

Sebastian auf Stuffed Shelves: »Sarajevo Disco« hat alles, was ein guter Krimi braucht. Steiler Spannungsbogen, überzeugende Kiez-Atmosphäre, interessante Figuren. Der Leser wird mitgenommen auf eine sehr temporeiche und bis zum Schluss undurchschaubare Achterbahnfahrt, die von der ersten Seite an Spaß macht.

Alexander auf Der Schneemann: Interview mit David Gray

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