Susanne Kronenberg: Wiesbadener Visionen

Ein Kriminalroman, dessen Handlung sich vor der eigenen Haustür abspielt, weckt neben dem eigentlichen Geschehen mit Verbrechen und Verbrecherjagd das Interesse des Lesers vor Ort.

Im 10.Fall ermittelt die Privatdetektivin Norma Tann – nachdem sie schon in Bad Schwalbach, Kloster Eberbach, Weimar und anderswo beruflich unterwegs war – wieder in Wiesbaden. Das, was geschieht, könnte jedoch auch in jeder anderen deutschen Stadt passieren. Wie hier gibt es kaum ein anderes aktuelleres Thema: Das Handeln der Klimaaktivisten, die mit unterschiedlichen Aktionen für eine Verkehrswende kämpfen, ebenso die Maßnahmen der Gegner.

Im Prolog erlebt Norma Tann, wie auf Wiesbadens Hausberg, dem Neroberg, ein SUV abgefackelt wird, in dem eine Leiche verbrennt. An diesem Platz steht ein Tempelchen, von dort ist der Blick frei auf die Marktkirche im Zentrum der Stadt, an der eine spektakuläre Abseilaktion der Verkehrswende-Aktivisten stattfinden wird. Zwischen diesen beiden Punkten ist die Handlung verortet.

Eine der „Anti-Car“-Aktivistinnen ist die spanische 20jährige Ona, die mit ihrer in Wiesbaden geborenen Großmutter Jorinde nach Deutschland kommt, um hier zu studieren. Die beiden sind in eine Wohnung im Haus von Jorindes Bruder eingezogen, einem reichen Immobilienmakler und Kunstmäzen. Mit ihm verhält es sich eigenartig und Jorinde macht sich Sorgen um ihn, weshalb sie Norma Tann bittet, nach der Ursache für sein Benehmen zu suchen.

Denn während Ona sich den „Anti-Car“-Aktivisten anschließt, die Abseilaktion von einem Turm der Marktkirche im Video festhält, ist ihr Onkel offensichtlich verschwunden.

Dann passiert, was bereits im Prolog zu lesen war: Der SUV brennt, in ihm eine Leiche. Eine Aktion der Verkehrswende-Aktivisten? Zumal es sich bei dem SUV um das Auto der Lebensgefährtin von Onas Onkel handelt, einer – wie Norma Tann erkennt – habgierigen Person, die zugleich als Mitglied der „Unser Auto bleibt mobil“- Gruppe zu den Gegnern von Ona & Co zählt. Und das ist noch nicht alles an Verflechtungen. Nora recherchiert und stößt auf den Unterstützer der Klimaaktivisten, einen erfolgreichen Maler dessen Mäzen der Onkel Onas ist.

Mit der spanischen Studentin in der Mitte eine verzwickte Geschichte, die Norma Tann aufdröselt und zu einer Auflösung führt, die anfangs nicht zu erwarten war, die Verknüpfung der Handlungsstränge mit den verschiedenen Ereignisse und (Un-)Taten jedoch eine logische Folge ist.

Wiesbaden als Ort der Handlung bietet sich für solch einen zunächst undurchschaubaren Plot an. Protagonisten und „Nebendarsteller“ könnten hier verortet sein. Und die Stadt gibt genügend her, was als Lokalkolorit einfließen kann.

Susanne Kronenberg beschreibt dieses Wiesbaden mit den Aktivisten pro und contra Verkehrswende, dem Mäzenatentum mit Fördern und Gefördert-Werden. Die Krimihandlung tritt dabei jedoch nicht in den Hintergrund, sondern bietet – auch wegen der aktuellen Aktionen der Klima/Verkehrswende-Aktivisten – reichlich Spannung, kommt dabei zu einer interessanten Auflösung des Falles.

Ein Kriminalroman, lesenswert nicht nur für Wiesbadenerinnen und Wiesbadener.

– – – O – – –

Susanne Kronenberg: Wiesbadener Visionen, erschienen im Gmeiner Verlag (2023)

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Christine Neumeyer: Der Kuss des Kaisers. Ein historischer Wien-Krimi

Wien zu Beginn des 20 Jahrhunderts. Kaiser Franz Joseph I. sieht seinem 60. Thronjubiläum entgegen, Thronfolger Franz Ferdinand reist durch Ungarn. Kaiser und Thronfolger haben unterschiedliche Ansichten über die Kunst. Der Kaiser liebt im Gegensatz zu Franz Ferdinand die Moderne Malerei und möchte deshalb die Gelegenheit nutzen, das noch unfertige Gemälde „Der Kuss“ von Gustav Klimt zu erwerben, um es nach Fertigstellung in der Galerie des Unteren Belvedere aufzuhängen.

Beauftragt mit dem Kauf ist der k.u.k. Amtssekretär Krzizek, der die Gemäldegalerie des Kaisers leitet. Gustav Klimt tritt dabei in einer Nebenrolle auf.

Hauptperson ist jedoch Erna Kührer, Bedienerin in der Galerie des Unteren Belvedere. Ihrem Chef dem Amtssekretär hat sie eine für ihre Verhältnisse noble Wohnung zu verdanken, zu verdanken aber insbesondere ihrem Verhältnis zu diesem Herren, dem sie stets in jeder Hinsicht zu Diensten ist.

Erna lebt in einer heilen Welt zufrieden zusammen mit ihrem arbeitslosen Mann, einem kleinen Zwillingspärchen und der heranwachsenden Tochter Klementine, bis ihr missratener Sohn wieder bei der Familie einzieht. Ein verschuldeter Verbrecher, der bereits einige Zeit im Gefängnis verbracht hat. Der hat nun nichts anderes vor, als mit der Jungfräulichkeit seiner zwölfjährigen Schwester Geld zu verdienen, damit die Schuldeneintreiber zufrieden zu stellen.

Während am Hof des Kaisers alles getan wird, damit der Kuss in der Galerie aufgehängt werden kann, bricht für Klementines Mutter die Welt zusammen, als sie erfährt, wie ihre Tochter Männern angeboten und vergewaltigt wird.

Für die Herren am Hof bahnt sich zur gleichen Zeit eine Katastrophe an, da in einem Brunnen im Schlosspark Teile einer zerstückelten Leiche – bis auf den Kopf – gefunden werden. Die Aufregung ist groß, denn alle, die zum Umfeld des Thronfolgers gehören, möchten den Fund geheim halten, den Mörder fassen, bevor der hohe Herr von seiner Reise zurück kehrt. Es wird vermutet, dass der Mord in Zusammenhang mit einem geplanten Attentat auf den Franz Ferdinand steht.

Nachdem die kaiserlichen Ermittler lange Zeit vergeblich nach Spuren suchen, die zum Mörder führen, wird der Fall schließlich gelöst.

Christine Neumeyer erzählt von einem Wien der um Kaiser und Thronfolger herum scharwenzelnden Elite und auf der anderen Seite von der Welt der Erna Kührer -rechtschaffen sein zu wollen, willfährig und immer in der Angst, in Ungnade zu fallen und die Arbeit zu verlieren –, vom Los der „Kleinen Leute“. Der Glanz der k. u.k. Monarchie ist am erlöschen, wer kann, sonnt sich aber noch darin. Da kann auch keine neue Tramlinie in der österreichischen Metropole und kein Gemälde von Gustav Klimt den Verfall aufhalten.

Es gelingt Christine Neumeyer vortrefflich, dieses Szenario darzustellen. Sie unterstreicht die Gegensätze in der Gesellschaft durch die unterschiedliche Sprache der Feinen und derjenigen, die in einfachen Verhältnissen leben.

Die Gemengelage Wiens im Jahr 1908 ist hier die Protagonistin, der Kriminalfall die logische Konsequenz der Situation. Gut recherchiert, für Freunde des Historischen Krimis und für alle, die die Atmosphäre Wiens zu jener Zeit fühlen möchten.

– – – O – – –

Christine Neumeyer: Der Kuss des Kaisers. Ein historischer Wien-Krimi. Erschienen im Picus-Verlag (2023)

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Horror vom Feinsten – MICHAELA KASTEL: UNSTERBLICH

Die Tierpräparatorin sorgt dafür, dass die Lieblinge ihrer Kunden unsterblich werden. Hunde, Katzen, Vögel, mal ein Hirsch und was da sonst noch kreucht und fleucht. NORMALERWEISE!

Zudem hat sie einige Kunden, die das Besondere lieben. Das macht ihre Arbeit nicht einfach, zuweilen auch illegal.

Abseits der Zivilisation lebt sie, die sich Valkyria nennt, im Wald und wir erleben, dass die Aufträge, die sie angeboten bekommt, immer kurioser, ja auch perfider werden. Ablehnen kann sie aus verschiedenen Gründen nicht.

Von den Bewohnern der umliegenden Gemeinden wird die Einsiedlerin als Hexe angesehen, gemieden, verhöhnt, gehasst. Andererseits fällt ihr alles, was mit Menschen zu tun hat, äußerst schwer. Langsam nähert sie sich dann aber doch dem Tierarzt, der gerade eine Praxis dort eröffnet hat, wo der düstere Wald endet. Ein alleinerziehender Vater eines kleinen Mädchens. Eigentlich nähert sich der Tierarzt ihr – und sie lässt es geschehen. Valkyria versucht, aus ihrer Isolation herauszukommen, während die Wünsche der Kunden immer verrückter werden und die Präparatorin zweifelt, ob sie die Aufträge noch annehmen soll. Als ihr von einem Kundenkonsortium ein letzter Auftrag angeboten wird, widersetzt sie sich.

Damit ist das üble Spiel, das getrieben wird, nicht zu Ende. Gleichzeitig erkennt Valkyria, was mit ihr vor langer Zeit geschehen ist – eine grausame Geschichte.

Mit diesem Thriller, aus der Sicht der Tierpräparatorin erzählt, kehrt Michaela Kastel wieder zurück in die Düsternis und Einsamkeit der Wälder, in dem sie ihren Leserinnen und Lesern den Horror in allen Facetten spüren lässt. Erneut mit einer Protagonistin, die sich von den „Normalos“ in der Zivilisation unterscheidet, die der Rest der Welt nicht interessiert. Doch sie ist mit einem Teil des „Rests der Welt“ so verbandelt, dass ihr Leben davon abhängig ist und das nicht so endet, wie man es ihr wünschen würde.

Unsterblich ist ein typischer Michaela-Kastel-Thriller: eine ungewöhnliche Geschichte, Gänsehaut erzeugend, tief in die Psyche der Protagonistin eindringend, verdient den Begriff „Thriller“, schwerlich zu vergessen.

Zudem hat Michaela Kastel hervorragend über die Arbeit der Präparation recherchiert und das Ergebnis einfließen lassen.

Es gibt Bücher, von denen gesagt wird, dass sie das Buch des Jahres seien. Unsterblich gehört dazu.

– – – O – – –

Michaela Kastel: Unsterblich, erschienen im Heyne Verlag (2023)

– – – O – – –

Thriller von Michaela Kastel:

Ich bin der Sturm (Madonna Reihe Band 1)

Mit mir die Nacht (Madonna Reihe Band 2)

So dunkel der Wald

Worüber wir schweigen

Und der Roman

Kaltes Herz fast Eis

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LOUISE PENNY: WILDES WASSER – der 15. Fall für Gamache

Nach einer Suspendierung ist Armand Gamache wieder zurück im Polizeidienst. Sein Chef ist Schwiegersohn Jean-Guy Beauvoir, dessen Mentor er über viele Jahre war. Gamache hat es in der neuen Position als Chief Inspector nicht einfach: Über Social Media Kanäle werden viele Hassbotschaften über ihn von Personen verbreitet, die ihn noch immer für das Desaster bei der Drogenbekämpfung verantwortlich machen. Agents, mit denen er zusammenarbeiten soll, zeigen offen, dass sie am liebsten auf ihn verzichten würden. Das Verhältnis zum neuen Chef ist nicht einfach, war doch die Rangfolge lange umgekehrt, und keiner der beiden weiß so recht, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten soll.

Armand Gamache bewegt sich sprichwörtlich in wildem Wasser, droht unterzugehen, zu ertrinken.

Zudem setzt in der Provinz Quebec die Frühjahrs-Schneeschmelze begleitet von starken Niederschlägen ein. Mit Hochwasser und riesigen Überschwemmungen ist zu rechnen. Auf die Erfahrung Gamaches im Umgang mit solch einer bevorstehenden Katastrophe wollen die Verantwortlichen nicht bauen. Übrig bleibt, dass sich der einst so erfolgreiche Chief Superintendent und Leiter der Sûreté du Québec um das Verschwinden einer jungen Frau kümmern soll, die angekündigt hatte, ihren gewalttätigen Ehemann verlassen zu wollen. Ins Rollen bringt diese Nachforschungen eine Kollegin des Chief Inspectors, Patentante der Frau und befreundet mit deren Vater.

Die Suche ist geprägt von Missverständnissen, Verwirrungen, Vorverurteilungen sowie Nachforschungen, die zu gerichtlich nicht verwertbaren Erkenntnissen führen und dazu, dass der des Mordes verdächtige Ehemann das Gericht unbestraft verlassen kann. Die Leiche der Frau war in der Nähe ihrem Wohnort im Bella Bella, dem kleinen Flüsschen, das auch durch Three Pines fließt, gefunden worden. Dieses friedliche Flüsschen hatte sich durch die Schneeschmelze zu einem reißenden Strom gewandelt und so die Vermisste in den Tod gerissen, nachdem sie von einer morschen Brücke in den Fluss gestürzt war. Unfall oder Mord? Das ist natürlich die Frage, die auch zu anderen Verdächtigen und schließlich zur Lösung des Falles führt.

Parallel dazu erfahren wir, dass auch gegen die Malerin Clara im Netz ein Shitstorm im Gange ist. Nach ihren großen Erfolgen der Vergangenheit werden ihre neusten Werke auf das Übelste niedergemacht und auch eine bedeutende Kritikerin beteiligt sich am Rufmord Claras. So kämpft auch die Malerin in einem „Wilden Wasser“.

Letztlich bleibt sowohl am Bella Bella als auch in der gesamtem Provinz das Hochwasser durch geeignete Maßnahmen unter Kontrolle und auch Armand Gamache kann sich aus dem gefährlichen Strudel befreien.

Nun könnte man meinen, die wechselhafte Geschichte des Armand Gamache sei mit Klärung des 15. Falles abgeschlossen. Neue Wendungen in dessen Berufsleben könnte es nicht mehr geben, Three Pines und seine Bewohner würden ein friedliches, unbekümmertes Leben führen können, die Sûreté du Québec zur Normalität und Integrität zurückfinden.

Aber dem ist nicht so. Das Erscheinen des 16. Bandes in deutscher Übersetzung steht bevor, während in den USA bereits der 18. Band erschienen ist. Es geht also weiter mit Armand Gamache.

Mit all diesen Verknüpfungen des Personals bei der Sûreté du Québec und den verwobenen Beziehungen der Bewohner und Bewohnerinnen von Three Pines und der Familie Armand Gamaches, wird es schwierig sein, neue Leser und Leserinnen für diese Reihe zu gewinnen. Wer eine Beziehung über die vielen Fälle Gamaches aufgebaut hat, sich als Teil der Three Pines Gemeinschaft empfindet, wird diese vermutlich nicht aufgeben. Aber für mich sieht es zur Zeit so aus, als wäre „die Luft raus“ aus einer bis zu diesem Punkt spannenden und liebenswerten Reihe. Gamache hätte nun endlich seinen Ruhestand verdient. Und wenn ich dann in ein paar Jahren an ihn zurück denken würde, hätte ich eine märchenhafte Geschichte in Erinnerung mit dem Motto „Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er auch noch heute!“

Ob ich den 16. Fall doch noch lesen werde? Vermutlich ja, Louise Penny hat mich angefixt.

– – – O – – –

LOUISE PENNY: WILDES WASSER – Der 15. Fall für Gamache,

erschienen im Kampa Verlag (2022), übersetzt von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck

– – – O – – –

Bisher besprochene Bände der Reihe:

Band 1:  Das Dorf in den roten Wäldern

Band 4: Lange Schatten

Band 5: Wenn die Blätter sich rot färben

Band 6: Heimliche Fährten

Band 7: Bei Sonnenaufgang

Band 8: Unter dem Ahorn

Band 9: Der vermisste Weihnachtsgast

Band 10: Wo die Spuren aufhören

Band 11: Totes Laub

Band 12: Auf keiner Landkarte

Band 13: Hinter den drei Kiefern

Band 14: Auf einem einsamen Weg

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Wahrlich kannibalisch: MARK BENECKE: KANNIBAL. JAGDRAUSCH

Ein Koffer mit menschlichen Knochen wird an einem Müllcontainer entdeckt. Die Knochen fleischlos, jedoch mit Schabespuren, als hätte jemand das Fleisch von ihnen fein säuberlich entfernt.

So fängt der 2. Kriminalroman von Mark Benecke an, dem bekannten Kriminalbiologen, forensischen Entomologen, Vegetarier, Musiker, Politiker, Podcaster, Autor, ….(die Liste könnte noch um mehrere Zeilen ergänzt werden. Dr. Benecke referiert über Hitlers Schädel, Insekten auf Leichen, „Mord im geschlossenen Raum“ sowie diverse andere Themen mit kriminalbiologischen und anderen Hintergründen. Zuhörer und Zuhörerinnen hängen bei seinen Auftritten an seinen Lippen.)

Und nun ist sein 2. Kriminalroman erschienen:

Bei solch einem schwierigen Fall, in dem es so scheint, als sei ein Kannibale unterwegs, schaltet die Berliner Polizei einen Spezialisten, den Privatermittler Bastian Becker und dessen Kollegin Janina Funke ein, um diesen eigenartigen Fall zu lösen.

Der rote Faden des Plots ist ein ganz gewöhnlicher, viele Male von vielen Krimiautoren und -innen gesponnen: Leiche oder Teile davon werden gefunden, Ermittler (egal ob Kommissar oder Privatschnüffler -m,w,d -) stehen vor einem Rätsel, kommen schließlich Täter näher, geraten in dessen Fänge, werden schließlich nach Erleiden vieler Qualen und Todesängsten daraus befreit, lösen den Fall, nachdem Autor/Autorin etliche Red Herrings ausgelegt hatte.

So auch hier, aber: Auf den Fall kommt es in diesem Fall an.

Kannibalismus in Verbindung mit Mord kommt wohl nur selten vor. Und so glaubt zunächst niemand dem Ansatz Beckers, der sich bei der Suche nach dem Mörder in das Netzwerk der Kannibalismus-Szene im weltweiten Netz macht. Dort trifft er auf Leute, die ihre kannibalischen Fantasien ausleben, aber auch auf solche, die es sehr ernst meinen. Menschen, Longpigs genannt, die sich mit ihrem Fleisch anbieten, andere, denen es danach aus verschiedenen Gründen gelüstet. Wie die fanatische Suche des Privatermittlers abläuft: siehe oben „Der rote Faden …

Parallel zu jenem roten Faden lernen wir den mutmaßlichen Kannibalen kennen. Nahezu jedes zweite Kapitel ist ihm gewidmet, wir lernen ihn zu verstehen, wobei lange unklar bleibt, warum er sich so eigenartig verhält.

Es ist nicht nur der Fall, der hier erzählt wird. Benecke wäre nicht Benecke, wenn er nicht ab und zu aus seinem reichhaltige Erfahrungsschatz plaudern würde. So erfahren wir von Issei Sagawa, einem Japaner, der eine Frau getötet und teilweise verspeist hat, von den unterschiedlichen Arten des Kannibalismus, deren Geschichte und Erscheinungen. Wir lesen über die Motive der „Täter“. Nur ist es manchmal ein wenig oberlehrerhaft, wie die Fakten dargeboten werden.

Ich schätze Mark Benecke sehr als Wissenschaftler und verfolge seine Arbeiten im Bereich der forensischen Entomologie seit seiner Untersuchung von Maden, bei der er die Liegezeit der Leiche der Frau des Pastors Klaus Geyer ermittelt hat (1997/8). Diese Veröffentlichungen und Berichte faszinieren mich sowohl als Naturwissenschaftler als auch als Fan von Kriminalliteratur.

Den vorliegende Kriminalroman kann ich trotz des Allerwelts-Ablaufs wegen seiner interessanten Thematik dennoch empfehlen.

– – – O – – –

Mark Benecke: Kannibal. Jagdrausch, erschienen bei BENEVENTO (2023)

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Peter Jackob: Schacks Schmuckstückscher!

Schmuckstückscher! Kann man so nennen. Ich bezeichne sie als Episoden aus dem Leben von Schack, in die der Mainzer Mordermittler unfreiwillig und zufällig hineingezogen wird. In der – wie auch immer, wann auch immer, wo auch immer – eine Leiche auftaucht.

Da fällt bei einem Restaurantbesuch Schack Bekkers einem Gast der Kopf in die Suppe. Gast tot! Suppe vergiftet? Schack findet die Ursache, die nie aufgeklärt worden wäre, wäre er nicht vor Ort gewesen – und genießt danach ebenfalls einen Teller dieses Rahmsüppchens.

Beim seinem Besuch des Ingelheimer Tigergeheges mit seiner kleinen Enkeltochter macht das kleine Mädchen während der Fütterung der Raubkatzen eine merkwürdige Entdeckung, der Bekker zunächst keine Bedeutung beimisst. Aber dann erkennt der Kommissar, was Leser dieses Kurzkrimis bereits erahnen. Und so ist es dann auch: Der Metzger wider Willen, zugleich Besitzer der Tiger, kann wieder seiner Reiseleidenschaft nachgehen, nachdem ihn seine Frau jahrelang daran gehindert hatte.

Auch auf Bekkers Fahrt zum Winzer seines Vertrauens passiert etwas, dass den pfiffigen Kommissar auf die Spur eines Verbrechens führt. Mit Colombo-haftem Vorgehen und Hilfe des fetten, ungeliebten Dackels seines Freundes wird der Mord an einer alten Frau aufgedeckt. Bekker erweist sich dabei als lupenreiner Schnüffler, und den Helden amerikanischer Krimiserien zumindest ebenbürtig.

„Ruhe in Frieden“ ist die vierte und kürzeste Episode, bei der Schack in einem schwedischen Möbelhaus – in dessen Schatten ich sozusagen wohne – auf die Leiche eines Mannes in einem Schrank mit einem beziehungsreichen Namen stößt. Eine köstliche Anekdote aus dem Leben des Kommissars, der sich am liebsten im Schatten des Mainzer Doms aufhält, auch in den umliegenden Weinstuben, und dort seine Fälle löst.

Man könnte jetzt behaupten, dass Schack Bekker in seiner Freizeit immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist. Das ist er jedoch unfreiwillig, stets Widrigkeiten ausgesetzt, die nicht gerade dazu beitragen, seine Laune zu verbessern. So hat Schack nicht nur während der normalen Arbeitszeit alle Hände voll zu tun, um Mörder zu jagen und zu fangen, sondern auch in seiner Freizeit, die er viel lieber mit seinen Freunden, Erna, oder in irgendeiner Weinstube der Mainzer Altstadt (siehe oben) genießen würde.

Diese vier Schmuckstückscher stellen einen Querschnitt Bekkers unfreiwilliger Freizeitgestaltungen dar und wurden in den letzten 12 Jahren in verschiedenen Anthologien veröffentlicht. Peter Jackob hat sie noch einmal leicht überarbeitet und in diesem Büchlein zusammengefasst.

So stößt man beim Lesen auf Bekanntes und Neues, dargeboten mit einer Portion Humor, angereichert mit Mainzer Lokalkolorit – auch dem der Umgebung inklusive von der anderen Rheinseite – und der liebenswerten Charakterisierung eines Kommissars „mit Ecken und Kanten, Herz und Humor“.

– – – O – – –

Peter Jackob: Schacks Schmuckstückscher!, Vier abenteuerliche Kurzkrimis mit dem Mainzer Kommissar Schack Bekker, 1. Auflage 2023, ISBN 978-3-982-26785-2

Zu bekommen in gut sortierten Buchhandlungen in Mainz und in der Region. Wer nicht fündig wird, kann auch direkt beim Autor unter info@peterjackob.de bestellen.

– – – O – – –

Schack Bekker- Romane:

Schack-Bekker-Erzählungen, der Autor nennt diese Reihe „Im Schatten des Doms“:

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Edgar Allen Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ als Graphic Novel

Adaptiert von Dacia Palmerino und gezeichnet von Andrea Grosso Ciponte

Es ist kein Krimi im engeren Sinn, spannend ist es allemal – und (für mich) neuartig: Edgar Allen Poes “ Der Untergang des Hauses Usher“ als Graphic Novel.

E. A, Poes Kurzgeschichte The Fall of the House Usher erschien erstmals 1839. 1840 wurde eine überarbeitete Version veröffentlicht, deren erste deutsche Übersetzung 1901 erschien. Die Geschichte ist in Edgar Allen Poe. Das Werk vom Verlag Zweitausendeins (2010) im Abschnitt „Grausige und humoristische Erzählungen“ zu lesen. Und sie ist wahrlich grausig – gruselig, düster, geheimnisvoll.

Was Poe dabei in Worten gelang, greifen Dacia Palmerino und Andrea Grosso Ciponte auf und zeichnen in düsteren schwarz-weiß Bildern mit wenig Text – vermutlich aus der Übersetzung von Gisela Etzel aus dem Jahr 1909 übernommen – die Stimmung zum Schaudern und Gruseln nach. Lediglich die Bilder, die die Rhapsodie „Der verzauberte Palast“, die Roderick Usher mit seiner Gitarre begleitet dem Ich-Erzähler vorträgt, heben sich mit einem zusätzlichen Blutrot von der übrigen Darstellung in der Graphic Novel ab.

Der Inhalt der Poe’schen Kurzgeschichte erschließt sich in den eindrucksvollen Bildern und den knapp gehaltenen Sprechblasen weitgehend und sorgt dafür, dass der ursprüngliche Geist der Geschichte erhalten bleibt, teilweise sogar verstärkt wird.

Somit ist die Transformation des fast 200 Jahre alten Werks in die Welt der heutigen Medien eine gelungene Art, Poe neu zu erzählen.

Aus dem Klappentext geht hervor, dass Andrea Grosso Ciponte bei dieser Arbeit zum ersten Mal mit einer KI-gestützten Software gearbeitet hat. Ein gelungenes Experiment!

Wer noch einmal in die ursprüngliche Form der Erzählung eintauchen möchte, dem sei empfohlen, eine der zahlreichen Ausgaben zu lesen, die teilweise auch kostenfrei im Netz verfügbar sind. Eine Kurzfassung des Inhalts und Deutung der Geschichte ist unter dem Titel der Kurzgeschichte bei Wikipedia zu finden.

Fazit: Eine Graphic Novel, mit der es gelungen ist, die grausige Geschichte vom Ende des Hauses Usher so darzustellen, dass E.A. Poe vermutlich davon beeindruckt gewesen wäre. Für mich ein Vergnügen, sich auf diese Weise mit dem Werk des amerikanischen Schrifstellers zu befassen.

– – – O – – –

Das Buch ist in der Reihe Dust Novels in der Edition Faust erschienen (2023), aus dem Italienischen übersetzt von Myriam Alfano

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Requiem Aeternam Conservamus* – MATHIJS DEEN: DER TAUCHER

Von der Nordsee, Wracks und Wracktauchern erzählt der Niederländer Mathijs Deen. Er erzählt wie die Nordsee so ist: kühl, mal ruhig, dann wieder aufwühlend und rau, auch Mordsee.

Ein Mann fährt mit seinem Boot von Föhr Richtung Wilhelmshafen. Später wird das Boot kieloben in der Nähe der dänischen Küste entdeckt. Vom Skipper keine Spur.

Irgendwo vor Amrum ortet ein Bergungsschiff unter holländischer Führung auf der Suche nach einem verloren Container ein Wrack, das auf keiner Wrackkarte der Gegend aufgeführt ist. Mit der Unterwasserkamera entdecken sie einen Taucher am Brückenaufbau. Tot. Der holländische Kapitän erkennt das Wrack. Die Hanne, 1950 gesunken mit Kupferplatten im Millionenwert an Bord.

Von der Bundespolizei in Cuxhaven wird Kommissar Liewe Cupido zum Bergungsschiff geschickt. Liewe, der „Holländer“ kann Holländisch und tauchen. Beim Tauchgang zu Wrack und totem Taucher, sieht, dass der Tote mit Handschellen an das Wrack gefesselt ist. Die Schlüssel für die Handschellen hängen außer Reichweite des Tauchers. Sichtbar in dessen letzten Minuten, jedoch unerreichbar.

Anderer Ort: Cuxhaven. Der Jugendliche Johnny hatte einige Monate zuvor den Gleichaltrigen Hauke so verprügelt, dass dieser schwer verletzt wurde, immer noch und wohl sein Leben lang unter den Verletzungen leiden muss, pflegebedürftig ist. Johnnys Eltern sind geschieden, der tote Taucher ist sein Vater, ein heruntergekommener Typ, ein Wracktaucher, lebte auf Föhr. Johnny läuft zum Ärgernis von Haukes Eltern frei herum, bisher gab es noch keinen Prozess, während es Hauke zunehmend schlechter geht, ins Koma fällt. Das herrenlose Boot vor Dänemark war das Boot des Toten.

Liewe und eine Kommissarin in Cuxhaven ermitteln im Fall des Tauchers, dessen Tod offensichtlich kein Unfall war. Wollte sich jemand an Johnnys Vater rächen? Hängt der Tod mit dem wertvollen Inhalt der Hanne zusammen, den der Wracktaucher schon teilweise geborgen hatte? Denkbar ist vieles, doch ein wahrscheinliches Motiv zunächst nicht erkennbar. Auf die Spur kommt Liewe, als der Tauchcomputer des Toten ausgewertet wird. Wohin die Spur führt und wer dabei war und weshalb ist eine lange Geschichte, von Mathijs Deen spannend und kurzweilig im maritimen Szenario erzählt. Ohne viel Schnick-Schnack – blendet man die kleinen Begebenheiten zwischen Liewe und einer Hundetrainerin aus. Eine Episode die zwischendurch und kurzzeitig zu einer angenehmen Entspannung beim Lesen führt. Neben dem Plot geht es aber auch um Väter und Söhne. Liewe, der seinen Vater verloren hat, einen Fischer der auf See über Bord ging, nicht wieder zurück kam. Johnny, der ab und zu mit dem Gesetz in Konflikt kommt, und sein Vater, der zu ihm hielt. Hauke schwerkrank und dessen Vater darauf aus, dem Sohn ein gutes Leben zu ermöglichen.

Schicksale. Aber auch das von anderen, die ihre Vorfahren im eisernen Grab am Meeresboden wissen. Nordsee – ist zuweilen Mordsee.

Trotz aller Nüchternheit der Erzählung Emotionen weckend. Große Unterhaltung in kurzen Sätzen. Ein gelungener Kriminalroman.

– – – O – – –

Mathijs Deen: Der Taucher. Mit einer Karte der Küstenregion auf der Innenseite des Schutzumschlags, aus dem Niederländischen übersetzt von Andreas Ecke, erschienen im mareverlag (2023), Originaltitel: De Duiker

– – – O – – –

* Wir schützen die ewige Ruhe

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Lea Stein: Altes Leid

In den ersten Jahren nach dem 2.Weltkrieg herrschte große Not in Deutschland. Die Städte zertrümmert, Lebensmittelrationen so gering, dass sie kaum reichten, um satt zu werden.Hamsterfahrten aus den Städten auf’s Land waren üblich. Mein Vater erzählte, dass er als Polizist in Helmstedt mit Braunkohle beladene Züge bewachen musste, damit nicht allzu viel Brennmaterial verschwand. Ein ewiger Student gab Ende der 60er immer wieder zum Besten, wie es war an der Hamburger Uni kurz nach dem Kriege. Seine Vorlesungsnotizen machte er auf dem Rand von Zeitungen.

Als Ida Rabe 1947 in die neugegründete weibliche Schutzpolizei in Hamburg eintritt, ergeht es ihr ähnlich wie dem Studenten damals: Papier gibt es nicht und so schreibt sie Berichte auf Bögen alter Akten. Sie erlebt Kohleklau, Schwarzmarkt und Hamsterfahrten von Frauen in die Vierlande, wo sie ihre letzte Habe gegen ein paar Kartoffeln oder anderes Essbare eintauschen.

Die weibliche Schutzpolizei wurde damals in der britischen Besatzungszone in Ermangelung männlicher Polizeikräfte etabliert. In einem Crashkurs wurden junge Frauen in wenigen Wochen auf ihre Arbeit vorbereitet, die darin bestehen sollte, Kinder, Jugendliche und Frauen „kümmern“, die in irgendeiner Weise als Täter oder Opfer von kleinen Verbrechen geworden waren. Durch Streife gehen sollten sie auf dem Schwarzmarkt illegale Geschäfte verhindern, bei anderen Gelegenheiten durften sie ihre männlichen Kollegen dabei unterstützen, Kennkarten von Personen zu kontrollieren, Personalien festzustellen.

Langgediente Polizisten gingen davon aus, dass ihre Kolleginnen nur eine gewisse Zeit diese Aufgaben verrichten würden, bis wieder genügend Männer für den Polizeidienst rekrutiert wären. Sich zu behaupten und von den männlichen Kollegen – aber auch von der Bevölkerung – anerkannt zu werden, sollte Frauen im Polizeidienst zunächst sehr schwer fallen.

Das ist das Szenario, das Ida Rabe in den ersten Tagen auf der Davidwache und bei ihren ersten Diensten in der Stadt erlebt.

Ina Rabe gefällt die Rolle der gerade gelittenen und gern gedemütigten Polizistin nicht. Und schon kurz nach ihrem Eintritt in den Polizeidienst möchte sie mehr als diese oktroyierte Rolle ausüben. Als auf dem Lande eine zerstümmelte weibliche Leiche gefunden wird, schießt sie über ihren Aufgabenbereich hinaus, beginnt sich Gedanken zu machen und Nachforschungen anzustellen, die weit über das hinausgehen, zu dem sie als Schutzpolizistin vorgesehen ist – zum Unwillen ihrer britischen Vorgesetzten und Vertretern der Kriminalpolizei. Lediglich in dem Rechtsmediziner mit griechischen Wurzel hat sie einen Zuhörer und mit der Zeit auch einen Unterstützer. Dabei erfährt Ida, dass die Tote regelrecht ausgeweidet wurde und von anderen Frauen, die in den Vierlanden zum Hamstern waren, hört sie von Vergewaltigungen und üblen Misshandlungen. Ein Monster scheint in der ländlichen Gegend sein Unwesen zu treiben.

Idas Tätigkeiten werden immer wieder durch kurze Kapitel unterbrochen, in denen eine zunächst unbekannte Frau über ihr Leid sinniert, das ihr zugefügt wurde, das sie den Übeltäter bestrafen will, ihn töten will. Die junge Schutzpolizistin reist in die Vierlande, um dem mutmaßlichen Monster näher zu kommen, kommt ihm auch näher. Und das Monster ihr! Zum Glück – soviel sei hier verraten – entkommt Ida aus dieser Situation und erkennt, was in Vierlanden mit den Hamsterinnen wirklich passiert. Schließlich findet sie auch Gehör bei den Herren der Kriminalpolizei und bringt es zu einer gewissen Anerkennung ihrer Arbeit und ihrer Person.

Es gibt in Lea Steins Altes Leid einige Nebenhandlungen, die einerseits den Alltag der notleidenden Bevölkerung in Hamburg beschreiben, auch die kleinkriminellen Handlungen die zum Überleben notwendig erschienen. Bettler, stehlende Kinder, Frauen, die durch Prostitution Zigaretten und ein bisschen Nahrung verdienen, gehören dazu. Zudem erfahren wir über das Leben der ausgebombten Bevölkerung, von Flüchtlingen, die in Notunterkünften wie Weltkriegsbunkern unter unmenschlichen Verhältnissen darben. Auch Ida gehörte nach einem traumatischen Erlebnis auf Amrum und ihrer Flucht von der Insel nach Hamburg zu diesen ums Überleben kämpfenden Menschen. Sie hat den Absprung geschafft, ohne ihre Zeit im Bunker zu vergessen.

Lea Stein hat Rosamunde Pietsch , die „Mutter aller Polizistinnen“, die 1945 ihre Ausbildung bei der Hamburger Polizei begann und später dort Kommissarin wurde, als historisches Vorbild für Ida Rabe genommen. Über die Lebensverhältnisse mit all dem Elend, mit Hamsterfahrten, Kleinkriminalität, Prostitution und Vergewaltigungen hat Lea Sein ausführlich recherchiert und so ein Zeitdokument innerhalb eines spannenden Kriminalromans geschaffen. Besonders eindrucksvoll sind aber auch die Geschichte der ersten Zeit nach dem Krieg, in der Frauen in den Polizeidienst aufgenommen wurden und die Rolle vieler männlichen Kollegen, die sich mit Unwillen und Arroganz dieser Entwicklung verschließen oder gar ihre neuen Kolleginnen diskreditieren und demütigen wollten. Und diese Einstellung hat sich bekanntlich noch bis vor Kurzem in einigen Bereichen gehalten.

Altes Leid ist ein gelungener, facettenreicher Kriminalroman, angekündigt als Auftakt zu einer Reihe mit der Polizistin Ida Rabe. Eine Reihe, der ich viel Erfolg prognostiziere, wenn es Lea Stein gelingt, auf diesem Niveau weiter zu schreiben.

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Lea Stein: Altes Leid, erschienen im Heyne Verlag, 2023

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Christoph Görg: Isengrim – Ein „Historischer Kriminalroman“

Niki hatte 2017 einen schweren Unfall, stürzte von der Mauer der Burgruine Dürnstein, nahe der österreichischen Stadt Krems. Als er wieder bei Bewusstsein ist, befindet er sich im Jahr 1193. Ein Zeitreisender, der am Ort des Unfalls auf Richard Löwenherz trifft und in zwei vorhergehenden historischen Romanen mit und ohne den englischen König einige Abenteuer erlebt.

Isengrim, der 3. Band dieser Reihe, beginnt am Abend von Allerheiligen im Jahr 1194, einen Tag bevor Niki seine Engeltrud heiraten will. Während sie mit Freunden in einer Taverne sitzen, wird eine Freundin von Engeltrud, die Bademagd Magdalena, brutal ermordet. Niki findet die Leiche und beginnt mit seiner Braut und einem Freund nach dem Mörder zu suchen. Es kommt, wie es kommen muss: die Suche ist nicht einfach, Niki selbst gerät unter Mordverdacht. Für die meisten Bewohner des Städtchen Krems ist allerdings klar, wer die grausamen Morde verübt: ein Werwolf, den sie Isengrim nennen.

Natürlich kennt Niki die Ermittlungsmethoden der Neuzeit und muss mit seinem Wissen hin und her jonglieren, um nicht seine Vergangenheit aus dem 21. Jahrhundert zu verraten.

Christoph Görg erzählt die Geschichte dieses Zeitreisenden mit allen Haken und Ösen, in die sich der gut 800 Jahre vor seinem Unfall zu verfangen droht.

Eine locker geschriebene Story. Wer eine penibel recherchierte Darstellung des Lebens und genauer Fakten jener Zeit erwartet, wird nicht zufrieden sein. In Isengrim geht es jedoch mehr um eine weitgehend erfrischende Geschichte, ein bisschen Spannung und einiges an Sex, zum Teil auch abstoßenden.

Sieht man von den derben Sexszenen und der nur teilweise authentischen Verortung im ausgehenden 12. Jahrhundert ab, bleibt noch ein guter Teil nette Unterhaltung übrig, in denen die Unterschiede der Lebensweise und -umstände der verschiedenen Zeiten beschrieben werden.

Ob das den Freunden historischer Kriminalromane – denn als solcher wird Isengrim ausgelobt – genug ist? Ich kann es mir nicht vorstellen.

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Christoph Görg: Isengrim, erschienen im Goldegg Verlag (2022)

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