In den ersten Jahren nach dem 2.Weltkrieg herrschte große Not in Deutschland. Die Städte zertrümmert, Lebensmittelrationen so gering, dass sie kaum reichten, um satt zu werden.Hamsterfahrten aus den Städten auf’s Land waren üblich. Mein Vater erzählte, dass er als Polizist in Helmstedt mit Braunkohle beladene Züge bewachen musste, damit nicht allzu viel Brennmaterial verschwand. Ein ewiger Student gab Ende der 60er immer wieder zum Besten, wie es war an der Hamburger Uni kurz nach dem Kriege. Seine Vorlesungsnotizen machte er auf dem Rand von Zeitungen.
Als Ida Rabe 1947 in die neugegründete weibliche Schutzpolizei in Hamburg eintritt, ergeht es ihr ähnlich wie dem Studenten damals: Papier gibt es nicht und so schreibt sie Berichte auf Bögen alter Akten. Sie erlebt Kohleklau, Schwarzmarkt und Hamsterfahrten von Frauen in die Vierlande, wo sie ihre letzte Habe gegen ein paar Kartoffeln oder anderes Essbare eintauschen.
Die weibliche Schutzpolizei wurde damals in der britischen Besatzungszone in Ermangelung männlicher Polizeikräfte etabliert. In einem Crashkurs wurden junge Frauen in wenigen Wochen auf ihre Arbeit vorbereitet, die darin bestehen sollte, Kinder, Jugendliche und Frauen „kümmern“, die in irgendeiner Weise als Täter oder Opfer von kleinen Verbrechen geworden waren. Durch Streife gehen sollten sie auf dem Schwarzmarkt illegale Geschäfte verhindern, bei anderen Gelegenheiten durften sie ihre männlichen Kollegen dabei unterstützen, Kennkarten von Personen zu kontrollieren, Personalien festzustellen.
Langgediente Polizisten gingen davon aus, dass ihre Kolleginnen nur eine gewisse Zeit diese Aufgaben verrichten würden, bis wieder genügend Männer für den Polizeidienst rekrutiert wären. Sich zu behaupten und von den männlichen Kollegen – aber auch von der Bevölkerung – anerkannt zu werden, sollte Frauen im Polizeidienst zunächst sehr schwer fallen.
Das ist das Szenario, das Ida Rabe in den ersten Tagen auf der Davidwache und bei ihren ersten Diensten in der Stadt erlebt.
Ina Rabe gefällt die Rolle der gerade gelittenen und gern gedemütigten Polizistin nicht. Und schon kurz nach ihrem Eintritt in den Polizeidienst möchte sie mehr als diese oktroyierte Rolle ausüben. Als auf dem Lande eine zerstümmelte weibliche Leiche gefunden wird, schießt sie über ihren Aufgabenbereich hinaus, beginnt sich Gedanken zu machen und Nachforschungen anzustellen, die weit über das hinausgehen, zu dem sie als Schutzpolizistin vorgesehen ist – zum Unwillen ihrer britischen Vorgesetzten und Vertretern der Kriminalpolizei. Lediglich in dem Rechtsmediziner mit griechischen Wurzel hat sie einen Zuhörer und mit der Zeit auch einen Unterstützer. Dabei erfährt Ida, dass die Tote regelrecht ausgeweidet wurde und von anderen Frauen, die in den Vierlanden zum Hamstern waren, hört sie von Vergewaltigungen und üblen Misshandlungen. Ein Monster scheint in der ländlichen Gegend sein Unwesen zu treiben.
Idas Tätigkeiten werden immer wieder durch kurze Kapitel unterbrochen, in denen eine zunächst unbekannte Frau über ihr Leid sinniert, das ihr zugefügt wurde, das sie den Übeltäter bestrafen will, ihn töten will. Die junge Schutzpolizistin reist in die Vierlande, um dem mutmaßlichen Monster näher zu kommen, kommt ihm auch näher. Und das Monster ihr! Zum Glück – soviel sei hier verraten – entkommt Ida aus dieser Situation und erkennt, was in Vierlanden mit den Hamsterinnen wirklich passiert. Schließlich findet sie auch Gehör bei den Herren der Kriminalpolizei und bringt es zu einer gewissen Anerkennung ihrer Arbeit und ihrer Person.
Es gibt in Lea Steins Altes Leid einige Nebenhandlungen, die einerseits den Alltag der notleidenden Bevölkerung in Hamburg beschreiben, auch die kleinkriminellen Handlungen die zum Überleben notwendig erschienen. Bettler, stehlende Kinder, Frauen, die durch Prostitution Zigaretten und ein bisschen Nahrung verdienen, gehören dazu. Zudem erfahren wir über das Leben der ausgebombten Bevölkerung, von Flüchtlingen, die in Notunterkünften wie Weltkriegsbunkern unter unmenschlichen Verhältnissen darben. Auch Ida gehörte nach einem traumatischen Erlebnis auf Amrum und ihrer Flucht von der Insel nach Hamburg zu diesen ums Überleben kämpfenden Menschen. Sie hat den Absprung geschafft, ohne ihre Zeit im Bunker zu vergessen.
Lea Stein hat Rosamunde Pietsch , die „Mutter aller Polizistinnen“, die 1945 ihre Ausbildung bei der Hamburger Polizei begann und später dort Kommissarin wurde, als historisches Vorbild für Ida Rabe genommen. Über die Lebensverhältnisse mit all dem Elend, mit Hamsterfahrten, Kleinkriminalität, Prostitution und Vergewaltigungen hat Lea Sein ausführlich recherchiert und so ein Zeitdokument innerhalb eines spannenden Kriminalromans geschaffen. Besonders eindrucksvoll sind aber auch die Geschichte der ersten Zeit nach dem Krieg, in der Frauen in den Polizeidienst aufgenommen wurden und die Rolle vieler männlichen Kollegen, die sich mit Unwillen und Arroganz dieser Entwicklung verschließen oder gar ihre neuen Kolleginnen diskreditieren und demütigen wollten. Und diese Einstellung hat sich bekanntlich noch bis vor Kurzem in einigen Bereichen gehalten.
Altes Leid ist ein gelungener, facettenreicher Kriminalroman, angekündigt als Auftakt zu einer Reihe mit der Polizistin Ida Rabe. Eine Reihe, der ich viel Erfolg prognostiziere, wenn es Lea Stein gelingt, auf diesem Niveau weiter zu schreiben.
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Lea Stein: Altes Leid, erschienen im Heyne Verlag, 2023
Vielen Dank für den Tipp. Hört sich spannend an, wäre mir im Buchladen aber durchgerutscht.