Entgegen üblicher Gepflogenheiten lädt der alte Simeon Lee seine Nachkommen zu Weihnachten zu sich in sein Landhaus nach Gorstan Hall ein, in dem er mit einem seiner Söhne, dessen Frau und etlichen Hausangestellten lebt. Zwei Söhne mit Ehefrauen, ein alleinstehender Sohn und eine Tochter der verstorbenen Tochter des Alten werden erwartet.
Während die Ehepaare nur widerwillig der Einladung folgen – der Patriarch ist bekannt, dass er seine Nachkommen gern terrorisiert – kommt die Enkelin aus Spanien mit einem bestimmten Vorsatz nach England. Der ledige Sohn, schwarzes Schaf der Familie, hat auch ein Ziel: Nachdem er jahrelang auf Kosten des Vaters in der Welt herumgereist ist und nicht immer gesetzestreu war, möchte er sich wieder in seinem alten Zuhause einnisten. Zudem taucht noch der Sohn eines ehemaligen Geschäftspartners aus Südafrika bei Simeon Lee auf.
Wie von den meisten Familienmitgliedern erwartet, wird es kein fröhliches Weihnachtsfest. Der Hausherr lädt am Nachmittag des Heiligen Abends zu einer „Audience“ ein, bei der er seine Söhne – jedenfalls die ehelichen – als Nichtsnutze bezeichnet. Was er in anderen Betten gezeugt hat, könnte möglicherweise von besserer Qualität sein, sagt er. Auch an den Ehefrauen der Söhne lässt Simeon kein gutes Haar. Lediglich die Enkeltochter kommt ohne ätzende Kritik davon. Zudem erfahren die Anwesenden, dass der Herr des Hauses in Kürze sein Testament ändern will.
Daher wundert es nicht, dass am Abend aus dem Zimmer von Simeon ein Getöse umfallender Möbel und danach ein Todesschrei zu hören ist. Die Familie rennt zum Tatort, findet die Tür zum Zimmer von innen verschlossen. Zwei Söhne brechen die Tür auf und alle finden den Alten tot mit durchschnittener Kehle in einer riesigen Blutlache.
Als Glück erweist es sich zunächst, dass Inspector Sugden, der eine Stunde zuvor bereits dem damals noch Lebenden einen Besuch abgestattet hat, just zu dem Zeitpunkt noch einmal an der Tür klingelt, als das aufregende Ereignis passiert. So kann der Polizist sogleich die Ermittlungen aufnehmen.
Unterstützt wird der Inspector kurz darauf durch dessen Chef, der zu Hause gemütlich mit Hercule Poirot vor dem Kamin saß, wo die beiden nach einem anderen gelösten Fall zusammenhockten. Poirot wird vom Polizeichef gebeten, mit nach Gorston Hall zu fahren und ihn bei der Ermittlung zu unterstützen. Poirot folgt der Bitte und trifft auf eine Ansammlung von Personen, die alle ein Motiv für den Mord zu haben scheinen – Familienmitglieder, der Gast aus Südafrika aber auch ein Teil des Personals. So werden Gespräche mit allen Anwesenden geführt, hauptsächlich von Inspector Sugden. Alibis werden geprüft, alle Aussagen führen dazu, dass Sugden immer wieder meint, keiner der Anwesenden könne der Mörder sein, obwohl ein Fremder doch wohl auch nicht in Frage kommen könne.
Ein Mysterium ist auch das Locked-Room-Szenario: die Tür zum Tatort verschlossen, die Fenster zu oder ein etwas aufstehendes durch eine Sperre gesichert, sodass es unerklärlich ist, wie der Mörder das Zimmer verlassen haben könnte.
Aber zum Glück ist Poirot dabei! In vielen Gesprächen lässt er sich schildern, wie sich die Verdächtigen gegenseitig be- oder entlasten, registriert jede Kleinigkeit und löst schließlich den Fall.
Der Roman lebt von der Charakterisierung der Beteiligten und man kommt zu dem Schluss: Simeon Lee hat den Tod verdient. Agatha Christie erzählt im Sinne einer Krimihandlung nahezu spannungsfrei, zeigt dabei hervorragend die Spannungsverhältnisse zwischen den einzelnen Personen auf, die durch Misstrauen, Hass, Geringschätzung und Egoismus geprägt sind. Dazu ein cleverer Inspector und ein Poirot in Hochform, der sich von niemandem blenden lässt.
Ein Roman für Freunde der gepflegten Kriminalliteratur, der – so er in der Vorweihnachtszeit gelesen wird – Hektik aus unserem Leben in dieser stressigen Zeit herausnimmt. Im gemütlichen Sessel zum Entspannen mit Genuss zu lesen.
– – – O – – –
Agatha Christie: Hercule Poirots Weihnachten, Ausgabe des Antlantik Verlags (2015), übersetzt von Michael Mundhenk
Originaltitel: Hercule Poirot’s Christmas, zuerst erschienen im Dezember 1938 im Collins Crime Club