Ein Thriller, hart an der Realität der 44 Tage von der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer am 5. September 1977 bis zum Auffinden seiner Leiche am 19. Oktober des Jahres
Mein persönliches Vorwort: Wer die Tage nach der Entführung von Hanns Martin Schleyer miterlebt hat, wird die Aufregung im Land, die Ohnmacht den Entführern gegenüber und die allgemeine Anspannung überall nicht vergessen. Besonders ein Erlebnis hat sich mir ins Hirn gebrannt:
Feierabendverkehr in Karlsruhe, Mitte September 1977. Ich halte in der rechten Spur vor einer roten Ampel an einer Ausfallstraße nach Ettlingen.
Auf der linken Spur nähert sich ein Konvoi. Zuerst zwei Polizeimotorräder, dann drei schwarze Limousinen, am Ende nochmals zwei Motorräder mit Polizisten. Die Kolonne hält an, gleichzeitig stellen sich die Polizisten über ihre Motorräder, Maschinenpistolen vor der Brust, öffnen sich die Türen von Limousine 1 und 3, schwarz gekleidete Insassen stellen sich an die Türen, ebenfalls mit MP-Uzzis vor der Brust. Ich lege die Hände sichtbar auf das Lenkrad, Blick gerade aus, rühre mich nicht – aus Angst, dass eine Bewegung von mir falsch von den Uzzi-Trägern verstanden werden könnte. Bei Grün springen sie wieder in die Autos, auf ihre Krads. Die kleine Kolonne mit Generalbundesanwalt Rebmann saust los. Ich wische mir den Angstschweiß von der Stirn. Angespannt war die Situation in der Republik und auch bei mir.
Stephan R. Meyer, Sohn des damals amtierenden Leiters des Bundesamtes für Verfassungsschutz, hat die 44 Tage von der Entführung bis zum Auffinden der Leiche Schleyers in einem Thriller dargestellt, in einer fiktiven Story, in der die Namen einiger Personen, die in jenen Tagen agierten, geändert wurden, die involvierter Politiker wie Bundeskanzler Schmidt, Innenminister Maihofer, BND-Chef Herold, Helmut Kohl und Herbert Wehner jedoch nicht. Vieles, was auf Seiten der Politik, von Verfassungsschutz und Polizei geschah, kommt der Realität vermutlich sehr nahe, ebenso die Einschätzung der RAF, besonders ihrer führenden und zu der Zeit in Stammheim einsitzenden Köpfe.
Neben ausführlichen Recherchen bezieht sich Meier in diesem fiktionalen Werk auf das, was er über diesen Zeitraum von seinem Vater erfahren hat. Robert Manthey nennt ihn Meier hier und er ist der Hauptakteur in diesem dramatischen Geschehen.
Unterschiedliche Auffassungen einschließlich Kompetenzgerangel und Machtkämpfe, unerschütterlicher Glauben in die Fähigkeit von Computern bei der Suche nach Wohnungen, in denen Schleyer versteckt sein könnte, sowie Inkompetenz einzelner Stellen, erschweren Vorgehen und Ermittlungen, die möglicherweise dazu geführt hätten, dass die Geschichte anders ausgegangen wäre. „Belege“ dafür liefert der Autor in einem 20-seitigen Nachwort, in dem auch auf die Geschichte und die Taten der RAF noch einmal eingegangen wird.
Weitgehend fiktiv, aber auch vorstellbar sind die Sequenzen über die Helfer, die bei der Entführung für Logistik und Kontakte zu den Medien gesorgt haben, und das internationale Netzwerk, dessen sie sich bedienten.
Zusammengenommen weckt dieser Thriller Erinnerungen an die Zeit der Endphase des harten RAF-Kerns und ihres Terrors. Stellt dar, wie Politik, BND, Verfassungsschutz und Polizei aufgestellt waren, beschreibt die starken Seiten aber auch besonders die damaligen Schwachstellen sowie das Zusammenspiel mit den Medien. Letztlich führte diese Gemengelage zum Tod Hanns Martin Schleyers. Ein hoher Preis, der – so Meyer im Nachwort – dazu geführt hat, „dass es keinen einzigen ehemaligen RAF-Terroristen gibt, der nicht für jede seiner Mahlzeiten, … , für jede Minute Heizung im Winter und für jede Kugel Eis im Sommer auf genau die rechtsstaatliche Hilfe angewiesen ist, die er einst mordend und brandschatzend abschaffen wollte.“
Als „Thriller“ gemarkt, gibt das Buch einen realistischen Einblick in die Lage der Nation in den 44 Tagen. Einer Zeit der Aufregung, Empörung, Ohnmacht und Ängsten.
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Stephan R. Meier: 44 TAGE – Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war, erschienen 2021 im Penguin Verlag
Vielen Dank für die Rezension. Das Buch hatte ich noch nicht auf dem Schirm. Ich war zu der Zeit (leider?!) noch nicht geboren, aber es ist ein spannendes Kapitel der deutschen Geschichte und ich finde es gut, dass dies fiktiv aufgearbeitet wurde. Kommt sofort auf meinen Wunschzettel.
„Leider?“, wie man’s nimmt. Das Kapitel Geschichte war spannend – aber es gab ein paar Situationen, in denen ich fürchterliche Angst hatte. Andererseits im Nachhinein auch Amüsantes: Als wir im August 1977 in Karlsruhe an einer Ausfallstraße Richtung A8 in den 9.Stock eines Hochhauses einzogen – Wohnungen in derartigen Lagen bevorzugten bekanntlich RAF-Leute – war mein Nachbar, Vorstandsmitglied einer Karlsruher Bank recht verunsichert. Als dann Schleyer entführt und die Bevölkerung auf Leute achten sollten, die derartige Wohnungen anmieten, hat er dann Erkundigungen über meine Frau und mich eingeholt. Wir waren „sauber“.
Einige Monate später: An meinem Arbeitsplatz erschienen einige schwerbewaffnete Polizisten. Die Aufsichtsbehörde, die den Export von Waffen- und Rüstungsgütern beaufsichtigte, hatte anhand von Exportpapieren festgestellt, dass wir in der kleinen Chemiefabrik „Sprengmittel“ herstellten. Ein Fettgemisch zur Produktion von Suppositorien, also Zäpfchen. Diese Hartfette müssen über bestimmte Schmelzeigenschaften verfügen, damit sie am Applikationsort bei einer Körpertemperatur von 37°C schmelzen und dann den Wirkstoff freisetzen sollen. Was hat dieses Fett nun mit Waffen oder Rüstungsgütern zu tun? Ganz einfach: Das Produkt wird umgangssprachlich in der Branche auch als Sprengmittel bezeichnet. Taucht dieser Begriff dann auf einem Lieferschein oder anderen Warenbegleitpapieren auf, braucht man sich über den Besuch einer Überwachungsbehörde nicht zu wundern. Diesen Fall konnten wir nach anfänglicher Verwirrung schnell klären und die Sendung auf den Weg bringen, bevor das Fett ranzig wurde.
Ja, genau so war das „leider“ gemeint. Historisch ungemein spannende Zeiten, aber ob man die wirklich erlebt haben will….. Wie gut, dass Du zumindest auch ein paar Anekdoten / gute bzw. launige Erinnerungen aus diesen Tagen hast. Die Sprengmittel Geschichte ist auf jeden Fall göttlich, wobei die in dem Augenblick wohl auch erst mal angsteinflößend gewesen sein muss.
Im Gegensatz zu Gunnar hab ich mich aber mit der RAF und ihren Taten noch kaum befasst, so dass ich den Buchtipp hier gerne mitnehme.
Ich bin tatsächlich im Deutschen Herbst geboren worden, habe aber später als Kind die Attentate Ende der 80er mitbekommen und seitdem irgendwie schon fasziniert von der RAF. Habe auch schon verdammt viel Literatur und Film dazu gelesen und gesehen. Kann dieses Buch tatsächlich noch mal eine neue Perspektive bieten?
In den letzten beiden Jahrzehnten habe ich mich mit der RAF und ihrer Hochzeit fast gar nicht mehr beschäftigt. Gelegentlich gab es noch Berichte über die, untergetaucht oder wieder aufgetaucht sind. Das habe ich gelesen, aber nicht weiter verfolgt. Deshalb hat das Buch für mich jetzt das große Erinnern ausgelöst, auch wie ich die Zeit erlebt habe, was mir dabei durch den Kopf gegangen ist, was mir in dem Zusammenhang widerfahren ist.
Ob das Buch neue Perspektiven bietet? Ich kann es nicht beurteilen. Vielleicht JA, da offenbar vieles aus der subjektiven Sicht von Vater Meier geschrieben worden zu sein scheint.
Ich war damals erst 7, kann mich aber gut an diese Zeit erinnern. Auch ich hatte Angst: Überall hingen diese Fahndungsplakate mit den vielen schwarz-weißen Fotos. Ich war davon überzeugt, dass Teile der RAF sich in unserem Keller oder Schuppen versteckt halten.
Es war eine gespenstische Stimmung damals, offensichtlich nicht nur für Erwachsene, sondern auch für kleine Mäuse wie dich.